„Wir sind von einem umfassenden Ansatz noch weit entfernt“
Einzelne Vorkehrungen, wie sie die Bundesregierung jetzt beschlossen hat, verfehlen im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt ihre Wirkung, wenn sie nicht Teil eines breiteren Vorgangs sind, sagt ...
„Wir sind von einem umfassenden Ansatz noch weit entfernt“
Expertin Müşerref Tanrıverdi über das Fehlen von Finanzierung, institutionellem Verständnis und Konzepten in der Prävention / Ein Interview von Timo Stukenberg, FR
Einzelne Vorkehrungen, wie sie die Bundesregierung jetzt beschlossen hat, verfehlen im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt ihre Wirkung, wenn sie nicht Teil eines breiteren Vorgangs sind, sagt die Juristin.
Frau Tanrıverdi, die Bundesregierung hat mit dem Gewaltschutzgesetz im Kabinett die Einführung der sogenannten Fußfessel beschlossen. Ist das ein entscheidender Schritt, um den Schutz von Frauen vor Gewalt in Deutschland zu verbessern?
Es ist eher ein wichtiges Symbol als ein Meilenstein. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt ergreifen möchte. Wir haben aber Zweifel daran, dass die Fußfessel als einzelne Maßnahme einen umfassenden Schutz bietet.
Warum haben Sie daran Zweifel?
Zum Beispiel soll die elektronische Aufenthaltsüberwachung nur in Hochrisikofällen eingesetzt werden. Es gibt aber viele Fälle von Gewalt gegen Frauen, die zwar unterhalb dieser Schwelle liegen, aber trotzdem dringend staatliches Einschreiten erfordern. Außerdem muss die betroffene Frau einen Gewaltschutzantrag beim Familiengericht stellen. Wir sehen aber in der aktuellen Frauenhaus-Statistik, dass nur zwölf Prozent der Frauen, die ein Frauenhaus aufsuchen, so einen Antrag stellen. Zudem bietet das Gesetz keine Grundlage dafür, solche Hochrisikofälle treffsicher zu identifizieren.
Wie sollte man Hochrisikofälle identifizieren?
Für eine Risikoanalyse ist eine gründliche Abwägung der Gefahr und der möglichen Schutzwirkung der Fußfessel erforderlich. Dafür braucht das Gericht umfassende Informationen über den konkreten Fall. Das heißt, dass die Familiengerichte institutionsübergreifend mit allen relevanten Akteuren, wie etwa der Polizei oder Frauenhäusern, zusammenarbeiten müssen. Ohne diesen Informationsaustausch fehlt dem Familiengericht eine belastbare Grundlage, um diese elektronische Aufenthaltsüberwachung überhaupt erst anzuordnen. Dafür fehlen aber bundesweit einheitliche Standards.
Sie kritisieren, dass die Bedarfe bestimmter Gruppen durch die Fußfessel nicht ausreichend berücksichtigt werden. Warum?
Frauen im Asylverfahren sind zum Beispiel oft rechtlich dazu verpflichtet, in Gemeinschaftsunterkünften zu leben. Wenn der Täter in derselben Unterkunft lebt oder arbeitet, kann die elektronische Aufenthaltsüberwachung nicht sinnvoll zur Anwendung kommen. Gleiches gilt für Personen, die in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen leben.
In Spanien hat die Fußfessel dazu beigetragen, die Zahl der Femizide zu reduzieren. Könnte sie das hierzulande nicht auch?
Die Fußfessel alleine wird in Deutschland überbewertet. Wenn wir uns das Spanische Modell genauer anschauen, sehen wir, dass es einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt. Eben so, wie in der Istanbul-Konvention vorgeschrieben. In Spanien wurde nicht nur die elektronische Fußfessel eingeführt, sondern es gibt auch spezialisierte Gerichte für geschlechtsspezifische Gewalt und ein standardisiertes Gefahrenprognose-Tool. Das kann Hochrisikofälle identifizieren und ist die Grundlage für die Anordnung einer elektronischen Fußfessel. Mit nur einer punktuellen Maßnahme wie der Einführung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung werden wir an die Erfolge aus Spanien nicht anknüpfen können.
Die Reform des Gewaltschutzgesetzes sieht auch verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings vor. Wie gut lassen sich die umsetzen?
Damit Richter:innen solche Kurse anordnen, müssen sie darüber erst mal flächendeckend informiert werden. Wir wissen aus Gesprächen mit Personen aus der Praxis, dass der Kenntnisstand von Familienrichter:innen zum Thema Täterarbeit zum Teil sehr lückenhaft ist.
Könnte man Familienrichterinnen und Familienrichter nicht zu dem Thema fortbilden?
Absolut. Wir plädieren zum Beispiel dafür, dass die Fortbildung von Richter:innen standardisiert und verpflichtend werden muss. Bislang ist das freiwillig. Es gibt aber noch ein weiteres Problem. Wir haben bundesweit nicht genug Täterarbeits-Einrichtungen. Und die arbeiten fast alle mit befristeten Projektmitteln. Das heißt, dass ihre Arbeit nicht langfristig finanziell abgesichert ist. Und das, obwohl wir die Kapazitäten eigentlich massiv ausbauen müssten. Deswegen fehlt mir aktuell ehrlich gesagt die Fantasie dafür, wo Täter diese Kurse überhaupt ableisten sollen.
Wer ist da in der Verantwortung?
Die Verantwortung für die Finanzierung liegt primär bei den Ländern. Der Bund hat aber im Rahmen des Gewalthilfegesetzes zugesagt, sich an der Finanzierung der Maßnahmen nach diesem Gesetz zu beteiligen. Hierzu gehört auch der Bereich Prävention und damit Täterarbeitsangebote. Es ist also vorstellbar, dass der Bund auch hier unterstützt.
Seit 2018 gilt in Deutschland die Istanbul-Konvention. Sie verpflichtet den Staat zum wirksamen Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Wo steht Deutschland bei der Umsetzung?
Wir sehen tatsächlich bei der Umsetzung noch ganz erhebliche Lücken, von der Prävention bis zur Intervention. Wir sind von einem umfassenden Ansatz bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen leider noch weit entfernt. Es fehlt zudem ein Verständnis dafür, dass Gewalt gegen Frauen Ausdruck patriarchaler Machtverhältnisse und damit ein strukturelles Problem ist.
Was heißt das konkret?
Wenn es zu Gewalt gegen eine Frau kommt, ist das kein privates Beziehungsdrama, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Missstandes – nämlich, dass es ein Unter- und Überordnungsverhältnis zwischen Geschlechtern gibt, welches unter anderem auf stereotypen Rollenbildern fußt. Die Machtposition von Männern äußert sich unter anderem in der Anwendung von Gewalt gegen Frauen, da sie nicht als gleichwertig anerkannt werden. Und dieses Verständnis fehlt oft bei der Polizei, bei Richter:innen und Behörden. Das führt in der Praxis sehr oft zu Entscheidungen oder Maßnahmen, die am Kern des Problems vorbeigehen und die Bedarfe der betroffenen Person nicht erkennen.
Die Istanbul-Konvention gilt im Rang eines Bundesgesetzes. Verstößt Deutschland mit der schleppenden Umsetzung gegen geltendes Recht?
Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag und die Mängel bei der Umsetzung stellen damit einen Verstoß gegen völkerrechtliche Verpflichtungen dar.
Was können wir von anderen Ländern lernen?
In Portugal etwa gibt es seit 2017 ein interdisziplinäres Team, das sich aus Vertreter:innen von Justiz, Gesundheit, Sozialem, Polizeikräften und Nichtregierungsorganisationen zusammensetzt. Die analysieren systematisch Tötungsfälle, die verfahrensrechtlich schon abgeschlossen sind. So sollen sie Schutzlücken identifizieren und konkrete Empfehlungen an Politik und Verwaltung aussprechen können.
Wie genau passiert das?
Das Team analysiert alle Kontakte mit den Behörden, Unterstützungsdiensten, sie beziehen die Familie und Freundinnen ein. Dadurch können Behördenversagen und Mängel im System erkannt werden. Das ermöglicht ein systematisches Lernen. Von so einem Mechanismus würde Deutschland auch profitieren.
Müşerref Tanrıverdi ist Juristin und leitet die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Diese ist von der Bundesregierung damit betraut, die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland unabhängig zu beobachten und Empfehlungen auszusprechen.
Quellenangabe: FR ePaper, Darmstadt/Offenbach vom 20.11.2025, Seite 3